EXPRESS
20. Dezember 1969
E. Z.

 

Siebenjähriger "Surrealist" in Hietzing
 

Begabung oder Enthemmung?
 
 

Leider nur drei Tage, von Donnerstag bis heute, Samstag, ist in der Volksschule Steinlechnergasse Wien-Hietzing eine Ausstellung von Graphiken zu sehen, deren erregender Wirkung man sich kaum entziehen kann. Die dreißig, durchwegs mit Filzstiften gearbeiteten Blätter faszinieren durch eine intensive Kolor-Expressivität trotz der mangelnden, allerdings technisch bedingten Farbnuancierung. Und man wäre bereit, für die Deskription der fast Klee-artigen Märchengestalten und Traumvisionen, die in einem Neo-Jugendstil fließender Linien ineinandergreifen, das gesamte Vokabular der Surrealisten und Expressionisten zu bemühen, wüßte man nicht, daß der "Meister" ein quicklebendiger, siebenjähriger Bub ist, der überdies den vielversprechenden Namen Luigi La Speranza trägt.
Wie seine Mutter versichert, hat der Bub das Malen und Zeichnen entdeckt, als er heuer während der Ferien in Italien Filzstifte geschenkt bekam. Seither sei er in seiner Darstellungsfreude kaum zu bändigen.
Ein Blatt, das er anläßlich eines von der Schule angeregten Wettbewerbes zur Darstellung der Mondlandung malte, dürfte zwar von den unzähligen Karikaturen der Mondmenschen beeinflußt worden sein, in der Figuration zeichnet es sich allerdings durch die Souveränität der Komposition aus. Das liebste Bild des kleinen Meisters indes stellt eine Seelandschaft mit zwei Booten und einigen an Fische erinnernden phantastischen Meerestieren dar.
Doch was an jeder der einzelnen Zeichnungen des Buben auffällt, ist das für sein Alter besonders stark ausgeprägte Farbgefühl und sichere Linienführung. Ob es sich bei ihm  um eine überdurchschnittliche, entwicklungsfähige Begabung oder den überaus seltenen Fall einer fast totalen Enthemmung während des Darstellungsaktes handelt, die allerdings durch den Einfluß der sozialen Konvention später völlig verschwinden kann, ist kaum möglich vorherzusagen.
 

E. Z


 



 
 

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